Meine Mutter hat immer einen Spezialplatz in meinem Herzen gehabt. Als ich ein Kind war, fühlte sich unsere Verbindung sehr konkret an: Sie war ein Teil von mir. Lediglich ein Blick von ihr reichte schon oft, um mich zu beruhigen.
Sie war Schneiderin und ich genoss es, sie bei ihrer Arbeit zu beobachten:
sie nahm ihr blaues Maßband, um Maß zu nehmen, faltete Stoffe in die passende Form, übertrug ihre gemessene Maße auf den Stoff und zeichnete mit Kreide die Form, die sie schneiden wollte.
Woher wusste sie, wo sie die Linie zu zeichnen hatte? Wie fand die Form ihren Weg zu der Kreide?
Sie hatte einen sehr starken Charakter und war praktisch eine Alleinerziehende von sechs Kindern. Mein Vater war Alkoholiker und es schien, dass er sich kein bisschen um das Wohlbefinden seiner Familie kümmerte. Als meine Mutter krank wurde und als ihr Zustand von Jahr zu Jahr schlimmer wurde, ging mein Vater mit dieser Tatsache genauso sorglos um, wie mit jeder anderen Sache:
er sagte, dass meine Mutter eine Hypochonderin wäre und behauptete, dass sie ihre Krankheit einfach nur erfand, um Aufmerksamkeit zu bekommen.
Als meine Mutter Selbstmord beging, hatte ich von Anfang an das Gefühl, dass sie eine bewusste Entscheidung traf, um ihren Kindern zu helfen. Es war sehr wichtig für sie, dass wir bessere Chancen im Leben bekommen, als sie hatte, um etwas zu erreichen.
Knapp vor dem Tod meiner Mutter hatten meine Schwester und ich gerade in der Sekundarschule begonnen. Als meine Mutter sah, dass sie uns keine geeignete Ausgangssituation bieten konnte, löste sie dieses Problem auf ihre eigene Art und Weise.
Ich konnte nicht wirklich um den Tod meiner Mutter trauern. Sie sah keinen anderen Ausweg in dieser Situation, außer Selbstmord. Es war eine direkte Reaktion meiner Mutter zu den Realitäten des Lebens aus ihrem eigenen Blickwinkel. Und sie waren so, wie sie waren.
Ich konnte nicht meine Eltern anklagen. Stattdessen war ich furchtbar wütend gegenüber einer Welt, die jede gute Mühe für null und nichtig erklärt, Menschen gegeneinander stellt und sie als Gefangene ihrer eigenen Gegebenheiten unterwirft.
Ich habe eine klare Erinnerung in meinem Kopf über einen Tag nach Mutters Tod, als ich im Hof unseres neuen Heimes stand und ich eine starke Beklemmung fühlte, als ich an die Ungerechtigkeit dieser Welt dachte. Es schien, dass Menschen keine eigentlichen Mittel besitzen, um über ihre Lebensverhältnisse erhaben zu sein. Jedenfalls versprach ich mir selbst, dass keine Macht der Welt mich durch fordernde Umstände unterkriegen konnte.
Meine Mutter hatte ihre letzte Chance genutzt, die sie sah, um uns in unserem weiteren Leben zu helfen. In meinem neuen Heim wurde von uns erwartet, dass wir unsere neue Bezugsperson „Mutter“ nannten. Das war wie ein Frevel für mich. Meine Mutter ist gestorben, aber sie blieb noch immer meine Mutter. Ihre Bedeutung wurde nicht geringer. Sie lebte in mir weiter, genau wie auch mein Vater.
Jene Menschen, die versuchten, mich mit meinen Gedanken gegen meine Eltern zu stellen, verstanden nicht, was wichtig war, was gut für mich war. Wie konnten sie nur daran denken, dass es mir zugute kommen würde, wenn ich den Einfluss meiner Eltern in mir geringschätzen würde?
Meine Mutter hatte ihr Leben hergegeben, damit wir eine bessere Startposition haben konnten. Ich war dankbar, dass ihre Tat Türen für uns öffnete, weil es ihr Wille war.
Die einzige Sache, die ich noch von meiner Mutter habe, ist ihr blaues Maßband. Es ist so lang wie ein menschliches Leben: jeder Zentimeter korreliert mit einem Jahr. Diese Zeitachse hat mir geholfen zu definieren, wie bestimmte Dinge zueinander stehen.